Veränderungen im Gehirn infolge traumatischen Erlebens.
Traumatische Belastung und Hirnstrukturen
Untersuchungen haben ergeben, dass das Gehirn direkt nach einem Trauma verändert ist. Prinzipiell können sich diese Veränderungen auch wieder zurückbilden. Ist das Trauma jedoch übermäßig schwer oder wiederholt es sich mehrmals über einen längeren Zeitraum, können die Veränderungen länger anhalten oder dauerhafte Auswirkungen haben.
Ein subjektiv als existenziell (lebens)bedrohlich bewertetes Ereignis löst eine Reaktionskaskade im Gehirn aus. Die normalen Verarbeitungsfunktionen werden außer Kraft gesetzt, um das Überleben zu sichern. Das Gehirn schaltet daher sehr schnell von gezieltem Verhalten zu instinktivem Verhalten um. Durch das Ausschütten von Stresshormonen, wie z.B. Adrenalin und Noradrenalin ist der Körper optimal auf Kampf (Fight) oder Flucht (Flight) eingestellt. Sind diese beiden Optionen nicht möglich, kommt es zum Erstarren (Freeze) und zur Zersplitterung des sensorischen Inputs.
Traumatische Zange
Gerald Hüther et. al. [Hue 2010] beschreiben die o. g. Reaktionskaskade metaphorisch als traumatische Zange.
- Angst und / oder Schmerz setzen die Alarmreaktion des Körpers in Gang, mit dem Ziel zu überleben.
- Initiale Aktivierung des Bindungssystems. In Traumakontexten sind rettende Bindungspersonen jedoch nicht verfügbar, oder schlimmer noch, von ihnen geht die Bedrohung aus.
- Die Möglichkeit, zu entkommen, fehlt (No Flight).
- Das Erleben von Hilflosigkeit setzt ein, es bleibt nur noch
- Kampf, der wegen der einwirkenden übermächtigen Kräfte (Naturgewalten, physikalische Kräfte, von Menschen ausgehende Gewalt), nicht gelingen kann (No Fight) und die Erfahrung von
- Ohnmacht mit sich bringt.
- Ausgeliefert sein als Endzustand von Hilflosigkeit und Ohnmacht; in dieser traumatischen „Zangensituation“ von
- „No Flight – No Fight – Freeze“ setzen die archaischen autoprotektiven Notfallreaktionen (akute Belastungsreaktion) ein:
- Dissoziation in der Übererregung (Wahrnehmungsverzerrungen und -ausblendung, Erstarrung);
- Dissoziation in der Untererregung entspricht „Totstellreflex“ (Unterwerfung, Submission);
- Fragmentarische Speicherung des sensorischen Inputs, da entscheidende Hirnfunktionen außer Kraft gesetzt werden.
Sensorische Fragmente (Splitterbildung im Gedächtnis)
- Sinneseindrücke, Körperempfindungen und Reaktionen, bildhafte Aspekte, Geräusche, Gerüche
- Verhalten, das im Falle des Ausgeliefert seins dem Überleben dient
- Kognitionen (negative Gedanken und Überzeugungen im Augenblick von Gefahr und Ausgeliefert sein)
- Emotionen
- Beziehungsaspekte im traumatischen Geschehen
Außer Kraft gesetzte Hirnfunktionen
-
Hippocampus (Wahrnehmung, räumlich-zeitliche Einordnung)
-
Frontalhirnfunktionen (assoziative und ordnende Fähigkeiten des Bewusstseins), die den sensorischen Input zu einem zusammenhängenden Erlebnis und einer später abrufbaren Erinnerung verknüpfen
-
Broca-Sprachzentrum (Versprachlichung)
Der Volksmund drückt dies aus in Formulierungen wie
- Mir fehlen die Worte
- Es macht mich sprachlos
- Ich kann es nicht fassen
Wie kommt es zu diesem Schockzustand?
Die Verarbeitungsebenen des Gehirns, die sich im Laufe der Hirnentwicklung herausgebildet haben, vergleicht Gerald Hüther mit dem Aufbau einer Zwiebel.
Im Folgenden zitieren wir aus [Hue 2010]:
Die neuronalen Verschaltungen in den jüngeren, zuletzt herausgeformten äußeren Schalen sind komplexer, die in den älteren sehr früh herausgeformten inneren Schichten sind einfacher, funktionieren aber effizienter, wenn es zu schweren passageren (nur vorübergehend auftretenden - Anm. der Autoren) Störungen der Hirnfunktion bei psychischen Belastungen und den damit einhergehenden Stress und Notfallsituationen kommt.
Unter solchen Bedingungen entsteht in den höheren komplexeren Netzwerken der präfrontalen Rinde sehr schnell eine so starke Übererregung, dass dort kaum noch handlungsleitende Erregungsmuster generiert werden können. Es kommt dann zum Rückfall in alte, während der Kindheit und Jugend herausgeformte Verhaltens, -Denk, -und Gefühlsmuster sowie Körperreaktionen, weil in diesen alten Strukturen auch bei hoher Erregung noch hinreichend stabile, handlungsleitende Muster abgerufen werden können.
Bei noch stärkerer, überschießender und sich im Hirn ausbreitender Erregung durch unkontrollierbare psychische Belastungen, also Traumata = Bedrohung mit (Todes-) Angst und Ausweglosigkeit („inescapable shock“) werden auch diese älteren Muster nicht mehr abrufbar. Es kommt dann – ähnlich wie in einem Fahrstuhl, bei dem es von den höheren Ebenen rapide abwärts zu den ältesten, am tiefsten liegenden Ebenen geht – zur Übernahme der Verhaltenssteuerung durch jene neuronale Netzwerke, die selbst bei größter Erregung noch immer zuverlässig funktionieren: die archaischen, im Hirnstamm angelegten Notfallprogramme.
Sie übernehmen jetzt die Kontrolle der Verhaltensregulation. Es kommt zum Angriff, wenn das nicht geht, zur Flucht, und wenn beides nicht mehr möglich ist, zur ohnmächtigen Erstarrung (Submission, „Totstellreflex“).
Diese rasante Abwärtsfahrt in dem "Fahrstuhlschacht", bei der alle verarbeitenden Netzwerke auf verschiedenen Verarbeitungsebenen in höchste Erregung versetzt werden, hat folgende Konsequenzen:
1. Man kann das Hinabfallen in den "Fahrstuhlschacht" bis auf die unterste archaische Ebene des Hirnstammes als die psychotraumatische Wunde im Gehirn ansehen.
2. Die verarbeitenden Netzwerke verschalten sich miteinander. „Neurons that fire together, wire together“, wie der Physiker Hebb (1949) schon gesagt hat. Es entsteht in diesem Schacht ein spezielles Muster aneinandergekoppelter Netzwerke auf folgenden Ebenen:
- Kognitive Bewertung: Lebensgefahr, Ohnmacht, Schuld
- Sinnliche Wahrnehmung: optische, akustische, olfaktorische etc. Reize
- Emotionale Regulation: Angst, Ekel, Ohnmacht
- Körperliche Reaktionen: Angstschweiß, Herzrasen, Atemnot, Erstarrung, Verkrampfung
3. Wird ein Netzwerk durch einen Schlüsselreiz angetriggert, wird das gesamte aneinandergekoppelte Muster aktiviert. Das gesamte Erleben des belastenden Ereignisses oder Teile daraus drängen sich als Intrusionen oder Flash-backs auf.
4. Vermeidungsverhalten als Reaktion auf Intrusionen ist eine Strategie der Psyche um nicht in diesen "Schacht" hineinzufallen. Je erfolgreicher diese Bewältigungsstrategie eingesetzt wird, umso effektiver und gefestigter wird sie. Es ist also keine "Verarbeitung" der Belastung, sondern ein Umgang mit der "Wunde".